Beschreibung der verbreiteten Gedichtformen
Die Lyrik hat sich in der Antike aus der Textbegleitung des Lyraspiels entwickelt, das bedeutet, wie noch heute mit dem englischen Wort 'lyrics' für den Songtext eines Liedes ausgedrückt wird, der lyrische Text gehörte zu einer Musik.
Damit wird bereits das Wesen der Lyrik beschrieben. Sie musste sich den Anforderungen der Musik unterordnen. Man versteht Lyrik daher am besten, wenn man erst einmal überlegt, aus welchen Elementen Musik besteht.
Gerade bei moderner Musik fällt die starke Dominanz eines exakten Rhythmusses auf. Musikalisch nennt man diesen Metrik oder Takt. Die einzelnen Takte sind wiederum in betonte und unbetonte Noten gegliedert, die immer wieder in der gleichen, wiederkehrenden Folge auftreten bzw. ein erfühlbares Muster erkennen lassen.
Es ist logisch, dass sich ein für diese Musik geschriebener Text ebenfalls an diese Kriterien halten musste, um nicht mit der Musik in Konflikt zu geraten. Ein Schlagzeuger einer Musikband, der nicht in der Lage ist, den Rhythmus eines Musikstückes wie ein Uhrwerk (ein Metronom) einzuhalten, wird niemals erfolgreich sein. Ein Gedicht, das auffällige rhythmische Fehler aufweist, wird ebensowenig größere Beachtung finden. Es muss daher als erste Grundvoraussetzung aus sich ständig wiederholenden und gleichartigen Folgen betonter und unbetonter Silben bestehen. In der Textdichtkunst nennt man diese Folgen Versmaß, Versfuß oder ebenfalls Metrik.
Entsprechend der verschiedenen Musiktakte gibt es daher auch unterschiedliche Versmaße, die ich hier nur kurz anführen möchte. Zu beachten ist, dass die Silbenzahl der Versfüße nicht bedeutet, dass auch die zugehörigen Worte die gleiche Silbenzahl haben müssen. Ein zweisilbiges Versmaß kann also auch mit einem einsilbigen und einem folgenden dreisilbigen Wort oder vier einsilbigen Worten realisiert werden. Die Silbenzahl des Versmaßes bedeutet schlicht, dass nach der letzten Silbe des Versmaßes dieses erneut von vorn beginnt, - so lange, bis alle Worte des Gedichtes metrisch bestimmt sind.
Ich möchte hier kurz die wichtigsten Versmaße beschreiben und verwende hier folgende Symbole:
_ = betonte, lange Silbe
. = unbetonte, kurze Silbe
- 1. zweisilbige Versmaße:
- a) Trochäus : _ . = Wortbeispiel: 'heute'
- b) Jambus : . _ = Wortbeispiel: 'zuviel'
- c) Spondeus: _ _= Wortbeispiel: 'einmal'
Man könnte sagen, der Trochäus entspricht musikalisch dem 2/4-Takt.
- 2. dreisilbige Versmaße:
- a) Daktylus: _ . . = Wortbeispiel: 'spielender'
- b) Anapäst : . . _ = Wortbeispiel: 'es war Nacht', 'Heiratsmarkt'
- c) Amphibrachys: . - . = Wortbeispiel: 'gestorben'
Man könnte sagen, der Daktylus entspricht musikalisch dem 3/4-Takt.
Nun gibt es in der Musik sehr viel mehr unterschiedliche Rhythmen und es werden ständig neue entwickelt. Das gilt auch für die Wortkunst. Es sind nicht nur weitere und aus den oben genannten kombinierte Metriken verbreitet, sondern jeder kann entsprechend der Kunstfreiheit seinen eigenen Gedichtrhythmus entwickeln. Wichtig ist nur, dass dieser Rhythmus so exakt eingehalten wird, dass der Leser oder Zuhörer ihn erfassen kann. Ein holperndes Gedicht als Kunstfreiheit und eigenen Stil zu definieren, wird von Lesern nicht akzeptiert, vielmehr vermutet der Leser hinter dem Gedicht einen völligen Amateur und das wollen Sie wohl nicht auf sich sitzen lassen. Das ist auch der Grund für diesen Exkurs.
Nun besteht ein Lied nicht nur aus dem Rhythmus, sondern auch aus einer Melodie. Auch hier gibt es je nach Zielgruppe des Liedes völlig unterschiedliche Klangfarben. Die Melodie kann hektisch, einpeitschend, monoton, gefühlvoll oder getragen sein. Welche Klangfarbe der Künstler wählt, hängt direkt damit zusammen, welche Aussage hinter seinem Lied steht. Der 'Sound' dient dazu, den Hörer zu stimulieren, sich mit dem Liedinhalt, also dem Text zu identifizieren. Dabei kann die Musikrichtung sogar innerhalb des Liedes ändern, wenn sich z.B. die Aussage in eine andere Richtung bewegt.
Das ist bei einem Gedicht nicht anders. Der Text hat einen Inhalt, jedoch besitzt jedes einzelne Wort eine individuelle Klangfarbe. So kann beim Lesen des Textes eine Sprachmelodie entstehen, aber falsch gewählte Worte können auch genau das verhindern. So reicht mitunter ein einzelnes Wort die 'Melodie' eines Gedichtes ebenso grundlegend zu (zer-)stören, wie ein falscher Ton innerhalb eines Musikstückes.
Es ist daher kein Zufall, dass ein Gedicht 'schön klingt'. Es klingt so, weil der Autor die Worte nicht anders mit Mitteln der Komposition verknüpft hat, wie ein Komponist seine Melodieführung durch bewusste Wahl der Noten erreicht.
Damit ist das Wesen des Gedichtes grundlegend beschrieben. Alles Weitere ergänzt nun die Wirkung des Gedichtes. Im Prinzip benötigt ein Gedicht nicht einmal Worte, sondern lediglich Klangfarben, die auch durch Laute ohne Wortsinn erreicht werden können, wie das die Dadaisten propagiert haben. Dass dadaistische Gedichte vollwertige Gedichte sind, kann man sofort nachvollziehen, wenn man gute Gedichte in einer, einem völlig fremden Sprache hört. Auch ohne ein Wort zu verstehen, hört man sofort heraus, dass es sich um ein Gedicht handelt, ja man kann sogar bestimmen, ob es ein Liebesgedicht oder ein dramatischer Text ist. Wie bei Instrumentalmusik kann das Gedicht, dessen Inhalt verborgen bleibt, starke Emotionen erzeugen. Stellt man sich nun vor, dass es sich gar nicht um eine existierende, einem unverständliche Sprache handelt, sondern tatsächlich um Wortlaute ohne Inhalt, dann hat man den Dadaismus verstanden. Er abstrahiert die Worte zugunsten ihrer Klangfarbe, um so Verse mit makelloser Wortmelodie zu kreieren. Im dadaistischen Gedicht zerfließt somit die Grenze zwischen Lyrik und Instrumentalmusik. Beides besteht nur noch aus Rhythmus und Melodie.
Wenn nun ein Gedicht mehr als nur eine gesprochene Lautmalerei sein und einen sinnvollen Inhalt haben soll, so ändert das nichts an dem Umstand, dass darunter die obengenannten Kriterien nicht allzu sehr leiden dürfen. Am besten überhaupt nicht! Genau das ist eben die Kunst des Dichtens, genau die Worte zu finden, die diese Kriterien erfüllen und die dann zugleich einen sinnvollen Inhalt, bestenfalls sogar einen interessanten Inhalt haben.
Die nächste Beschäftigung gilt daher den Worten. Die Wortbetonungen, die für die Metrik des Gedichts verantwortlich sind, hatte ich ja soeben behandelt.
Außer der Betonung trägt ein Wort auch ein charakteristisches Klangbild. Man kann dieses musikalisch mit einer Tonhöhe oder Tonfolge vergleichen. Einer der häufigsten Fehler angehender Autoren gereimter Gedichte ist es, in einem Reimlexikon nachzuschlagen und sich dort ohne Beachtung seines Klangbildes das Reimwort herauszusuchen, das den gewünschten Inhalt am konkretesten wiedergibt. Das ist leider der falsche Weg und das Hauptargument der Verfechter ungereimter Lyrik, denn ein ohne Berücksichtigung seiner Klangfarbe herausgesuchtes Wort kann die bereits mühsam aufgebaute Stimmung des Gedichtes völlig zunichte machen. Oft ist das Wort, das den gewünschten Sinn am zweitbesten wiedergibt, auf Grund seines besser passenden Klangbildes die bessere Lösung.
Es spielt dabei auch eine Rolle, wie viele Silben ein Wort hat. Wer gereimte Gedichte schreibt, bemerkt sehr schnell, dass verschiedensilbige Worte, die sich einzeln gut miteinander reimen, im Kontext eines Gedichtes einfach nicht passend klingen. Die Silbenzahl bedingt auch die Klangfarbe des Wortes, so klingen einsilbige Worte stumpf (z.B. Maus), zweisilbige Worte melodisch (z.B. singen) und dreisilbige Worte neutral (z.B. begleitet). Einzeln gesprochen mag das egal sein, aber innerhalb eines fließenden Textes muss jedes Wort 'wirbelfrei' in den Gesamt-Sprachfluss passen.
Die Aufgabe des Poeten besteht nun darin, ein Wort zu finden, das den gewünschten Sinn transportiert, aber auch vom Klang zum Gedichtsvers passt. Und hier scheitern viele Autoren. Sie wollen den vorgesehenen Sinn erzwingen und pressen Worte in den Vers, die vom Klang nicht zu ihm passen. Als einfaches Merkmal mag gelten, ein Vers ist gut, wenn ihn auch ein ungeübter Sprecher direkt laut lyrisch lesen (
man beachte: 'laut lyrisch lesen' ist ein Stabreim) kann. Muss er sich darauf konzentrieren, die Betonung und den Wortklang hinzubiegen, ist die Verszeile bestenfalls mittelmäßig.
Um das Thema Wortfindung abzuschließen, 'der Wortklang ist wichtiger als der Wortsinn'. Lieber das vom Sinn her passende zweitbeste Wort, das klangmäßig stimmt, als das beste Sinnwort, das den Vers holpern lässt. Und eines sollte der Dichter immer akzeptieren, dass sich das Gedicht unvorhergesehen in eine andere thematische Richtung entwickelt, als er es zuvor eingeplant hatte. Gedichteschreiben hat eine gewisse Eigendynamik. Lieber ein ungeplantes aber saugutes Gedicht über eine missglückte Liebe, als ein sauschlechtes Liebesgedicht, nur weil man gerade ein solches benötigt. Das dann einfach auf's nächste Mal vertragen. Wenn man in der richtigen Stimmung ist, klappt es auch.
Nun komme ich zu dem Thema, das in den Augen von beginnenden Gedichtautoren das wichtigste überhaupt ist, die äußere Gedichtform. Hier gibt es unendlich viele Möglichkeiten, denn es gibt eigentlich keine konkrete Vorschrift für eine Gedichtform. Es haben sich einfach im Laufe der Zeitgeschichte bestimmte Formen verbreitet.
In der klassischen Literatur gab es noch keinen Endreim. Eine bestimmte Anzahl von Versfüßen, bzw. deren Verknüpfung bestimmte die Art des Gedichtes. Im alten Germanenreich entstand der Stabreim und erst im Mittelalter entwickelte sich in den lateinischen Kirchenliedern der Endreim. Die moderne Literatur hat sich dann wieder etwas vom Endreim entfernt, was zwei Ursachen hat.
1. Schaut man sich heute die gereimten Gedichte manch eines berühmten Dichters der Romantik oder Klassik an, so erscheinen sie durchaus nur mittelmäßig. Ich hatte ja beschrieben, wie schwer und langwierig es sein kann, ein gutes Gedicht zu schreiben, bei dem sich die Metrik, der Wortklang und der Wortsinn makellos ergänzen. Kommt nun noch hinzu, dass sich die Endworte der Zeilen auch noch reimen sollen, so kann man sich leicht vorstellen, dass das meistens nicht ohne Kompromisse mit Inhalt, mit Versmaß oder Wortklang möglich ist. Also bleibt man lieber beim Machbaren und verzichtet auf den Reim zu Gunsten des aus Sicht der Metrik, des Klangbildes und des Inhalts besseren Gedichts, was allerdings nicht bedeutet, dass ein Gedicht, bei dem Metrik, Klang, Inhalt und Reim makellos sind, nicht noch besser wäre, - aber eben auch sehr viel schwerer.
2. Spielt es heute mehr denn je eine Rolle, Gedichte in andere Sprachen übersetzen zu können. Ist ein Dichter in einem Land für seine Lyrik berühmt, so findet das sofort eine Nachfrage in einem Land mit anderer Sprache. Muss man nun bei der Übersetzung des Gedichtes nur auf Versmaß, Wortklang und Inhalt achten, so ist eine Übersetzung meistens gut möglich. Müssen sich dann aber noch zu jedem Endreim des Originalgedichtes Endreime in der fremden Sprache finden, die den gleichen Inhalt unterstützen, so erreicht man recht schnell den Punkt der Unmöglichkeit.
In der modernen Lyrik überwiegen daher Gedichte ohne Endreim.
bekannte
Gedichtformen
- 1. Der Stabreim (Alliteration)
Es stand ein stolzer Storchenmann
behend auf einem Bein,
vorüber flog die Fledermaus
nahm nicht Notiz davon.
cr:Horst Decker
- 2. Der Haufenreim
Bei dem Haufenreim enden alle Verszeilen mit dem gleichen Reim.
Egal, wohin ihr geht,
selbst wenn ihr hier nur steht,
ihr niemals überseht,
hier lebte ein Poet.
cr:Horst Decker
- 3. Der Paarreim
Bei dem Paarreim reimen sich immer eine gerade und eine ungerade Nachbarzeile miteinander.
Die taube Taube
In dem Laub der Gartenlaube,
da wohnt eine taube Taube.
Wenn wir dort 'ne Feier feiern,
dabei wie die Reiher reihern,
scheißt uns dieses Scheißgetier
eiskalt ins eiskalte Bier.
cr:Horst Decker
- 4. Der Kreuzreim
Es reimen sich immer die ungeraden und die geraden Zeilennummern miteinander.
Die Liebe ist
bei Licht geseh'n,
mal großer Mist,
mal wunderschön.
cr:Horst Decker
Man beachte hier den 'unreinen Reim' der ungeraden Zeilen. 'Geseh'n' und 'wunderschön' reimen sich nicht wirklich, was aber wegen des ähnlich klingenden Vokals und des eingehaltenen Versmaßes nicht störend auffällt. Zumindest nicht bei Kreuzreimen, bei denen die zugehörigen Reime ja nicht direkt hintereinander folgen. In vielen Liedertexten findet man unreine Reime, aber auch in Gedichten der großen Klassiker.
Die folgenden Reimarten lassen sich als Nebenformen des Paarreims und des Kreuzreims verstehen, was allerdings bei kurzen Verszeilen nicht so auffällt.
- 5. Der Binnenreim
Es reimt sich ein Wort in der Mitte der Verszeile mit dem Endwort der Verszeile.
Mein liebes Kind es war der Wind,
der dir das Strumpfband hat gelöst und dabei dir das Bein entblößt.
cr:Horst Decker
Dass dieses Gedicht eigentlich ein Paarreim ist, bemerkt man schnell, wenn man den Schriftsatz ändert:
Mein liebes Kind,
es war der Wind,
der dir das Strumpfband hat gelöst
und dabei dir das Bein entblößt.
- 6. Der Mittelreim
Es reimen sich sowohl ein Wort in der Mitte der Verszeile als auch das Endwort der Verszeile mit entsprechenden Worten der folgenden Zeile.
Wir fahren stets und jederzeit
seit Jahren nur bei Dunkelheit.
cr:Horst Decker
Dass dieses Gedicht eigentlich ein Kreuzreim ist, bemerkt man schnell, wenn man den Schriftsatz ändert:
Wir fahren
stets und jederzeit
seit Jahren
nur bei Dunkelheit.
- 7. Der umschließende Reim
Es reimt sich die erste mit der vierten Zeile, dazwischen steht ein Paarreim.
Wir werden uns bald wiedersehn,
solange wir stets daran denken
wird uns das Schicksal lenken
und es wird auch geschehn.
cr:Horst Decker
- 8. Der Schüttelreim
Ein Zweizeiler, bei dem die ersten Buchstaben der jeweils beiden letzten Zeilenworte vertauscht werden, so dass sie sich beide Zeilen (doppelt) reimen.
Am besten du die Zeitung liest,
wo du an der Leitung ziehst.
cr:unbekannt
(Heute nicht mehr ganz verständlich, aber früher musste man die Toilettenspülung durch Ziehen an einem von unterhalb der Decke vom Spülkasten herunterhängenden Handgriff auslösen.)
Aus diesen oben genannten Reimformen lassen sich nun wiederum neue Formen kombinieren. Verbreitet hat sich hier der verschränke Reim, der prinzipiell wie der Kreuzreim funktioniert, nur, dass dieser um eine weiteres Reimpaar ergänzt wurde. Er beginnt also mit drei Zeilen, auf die sich in identischer Abfolge die nächsten drei Zeilen reimen.
- 9. Der verschränkte Reim
Es reimt sich die erste mit der vierten, die zweite mit der fünften und die dritte mit der sechsten Zeile.
Wer wissen will, wie es mir geht,
der Frage noch bei Zeit.
Wart' nicht zu lang,
sonst ist's zu spät,
der Tod macht seine Arme breit
und darum ist mir bang.
cr:Horst Decker
- 9. Der Schweifreim
Er beginnt mit einem Paarreim, dem sich noch eine Zeile anschließt, die sich dann nach einem weiteren Paarreim mit der letzten Verszeile reimt.
Eines was ich gar nicht mag,
ist Ärger gleich am frühen Tag.
Der Streit entsteht nach meiner Sicht,
weil ich auch niemals pünktlich bin
und meinen Job zu spät beginn,
doch ändern mag ich dieses nicht.
cr:Horst Decker
- 10. erweiterter umschlossener Reim
Es reimen sich die Zeilen von außen nach innen, also die erste mit der sechsten Zeile, die zweite mit der fünften Zeile und die dritte mit der vierten Zeile.
Was wäre, wenn der Kaiser dumm
und taub an beiden Ohren,
er machte doch die Politik
und lenkte so des Volks Geschick
nur weil er hochgeboren,
als ging es nur darum.
cr:Horst Decker
Als letzte verbreitete gereimte Gedichtart möchte ich hier noch das Limerick anführen, weil diese, eher humoristische, irische Gedichtform zeitweise in Deutschland starke Verbreitung gefunden hatte.
- 10. Limerick
Das Limerick beginnt mit einem Reimpaar, dem ein weiteres, aber in der Metrik verkürztes Reimpaar folgt, dem sich eine 5 Zeile anschließt, die zum ersten Reimpaar passt.In einem Klo in Niederzissen,
hat der Klaus einst so geschissen,
das nach Wochen, ja nach Jahren,
da keine waren,
die dort auch nur wollten pissen.
cr:Horst Decker
Weitere Formen sind Gedichte, bei denen sich lediglich die zweite und die vierte Zeile reimen. Löst man das allerdings insofern auf, dass man die zweite Zeile an die erste anschließt und die vierte Zeile an die dritte, so ergibt sich hieraus ein zweizeiliger Paarreim.
Eine weitere Abart, die gerade bei modernen Gedichten häufig verwendet ist, ist der Umstand, dass die Reimworte nicht zugleich vollständige Satzelemente abschließen, sondern mitten aus dem Satz stammen, der Satzinhalt also zeilenübergreifend ist.
- 12. Reim innerhalb des Satzverlaufs (Enjambement)
Wie gerne
reise ich weit weg,
denn in der Ferne
gibt's kein Dreck.
cr:Horst Decker
Schaut man auch hier genau hin, so ist diese Gedichtvariante bezüglich der beiden ersten Verszeilen nichts anderes als ein in zwei Zeilen aufgelöster Mittelreim, wie ich ihn unter Punkt 6 beschreibe.
- 13. Doppelreim
Der Doppelreim ist eine Spielart des Paarreims, bei dem sich jeweils die beiden letzten Worte der Nachbarzeilen reimen. Hier als Beispiel ein Gedicht aus der Arbeiterbewegung der 1920er Jahre. Es beginnt mit einem Doppelreim und wird dann mit Haufenreimen fortgesetzt. Die beiden letzten Zeilen lassen sich auch als Enjambement verstehen.
Der Weihnachtsbaum steht öd und leer,
die Kinder schauen blöd umher,
da lässt der Vater einen krachen,
die Kinder fangen an zu lachen,
so kann man auch mit kleinen Sachen
Proletenkindern Freude machen.
sozialistische Volksdichtung der 1920er Jahre
ungereimte Gedichtformen
Ich hatte ja ganz zu Beginn dieser Erläuterung beschrieben, dass die Anforderungen an ein Gedicht vollständig erfüllt sind, sobald ein Text in einem Versmaß geschrieben ist und der Wortklang durch eine melodische Dramaturgie in der Lage ist, Emotionen zu erwecken, - sofern die Worte einen Sinn ergeben, auch eine (verdichtete) Aussage zu vermitteln.
Insofern gibt es für moderne Gedichte keine weiteren Regeln. Jedoch sollte man sich in einem klar sein, akzeptable Gedichte ohne Reim sind ungleich schwieriger als entsprechende gereimte Gedichte. Das erscheint nach der eingänglichen Beschreibung der Gedichtformen widersprüchlich, aber gerade weil es formell einfacher ist ungereimte Lyrik zu schreiben, sind die Erwartungen an deren Inhalt und Formtreue erheblich höher. Natürlich lernen bereits Kinder in der Grundschule bestimmte Gedichtformen zu nutzen. Aber solche formell korrekten Gedichte will außer dem Lehrer und der Verwandtschaft nur selten jemand lesen. Da es keine Möglichkeit gibt, sich wie bei einem gereimten Gedicht an formelle Strukturen und schöne Reime zu klammern, liegt bei der ungereimten Lyrik die gesamte Kraft und Wirkung in der Klangmelodie und dem lyrischen Inhalt.
Larifari-Gedichte interessieren niemanden. Jedes Wort muss auf die Goldwaage gelegt werden. So hat der Nobelpreisträger 2011 für Literatur, der 80-jährige schwedische Lyriker Tomas Tranströmer in seiner rund 60-jährigen Schaffensperiode gerademal 100 eher kurze Gedichte geschrieben, an denen er im Durchschnitt jeweils 3 Monate gearbeitet hatte. Der Erfolg gab ihm Recht. Seine Gedichte wurden in etwa 50 verschiedene Sprachen übersetzt und er hat den Nobelpreis für sein lyrisches Werk erhalten. Sein Geheimnis ist die Sorgfalt, mit der er seine Gedichte immer wieder bearbeitet, Teile verwirft und Gutes durch Besseres ersetzt, bis er zu der Überzeugung gelangt, dass alle weiteren Verbesserungsbemühungen keinen Erfolg mehr haben können, weil keine Mängel mehr erkenn- und spürbar sind.
Allerdings haben sich auch bei Gedichten ohne Reim spezielle Kunstformen gebildet, bzw. wurden Kunstformen von Ländern übernommen, denen Endreime ohnedies fremd waren.
Am bekanntesten dürfte das Haiku sein.
- 14. Haiku
Das Haiku ist ein dreizeiliges Gedicht, das sich an Silbenzahlen orientiert. Ursprünglich stammt es aus Japan und war mit Naturthemen verbunden. Heute in der modernen Lyrik gibt es für Haikus keine thematischen Vorgaben mehr. In einem Haiku hat die erste Zeile 5 Silben, die zweite Zeile 7 Silben und die dritte Zeile wieder 5 Silben.
Getrennt reisen schafft Zeit,
getrennt nachzudenken,
über getrennt sein.
cr:Horst Decker
- 15. Elfchen
Elfchen ist eine sehr bekannte Gedichtform, die ursprünglich als schulische Gedichtübung entwickelt wurde. Das Problem solcher 'einfachen' Gedichtformen ist ihr hoher Inhaltsanspruch, ohne den solche Gedichte keine Beachtung erzielen. Elfchen bauen auf einer Wortstruktur auf. Die erste Zeile besteht aus einem Wort, meistens einem Zustandsbegriff. Die zweite Zeile besteht aus zwei Worten, die dritte Zeile aus drei Worten, und die vierte aus vier Worten. Diese drei Zeilen liefern eine erklärende Beschreibung. Die fünfte und Abschlusszeile besteht wiederum aus nur einem Wort, das quasi die Quintessenz der vier vorstehenden Zeilen ist.
Tagtraum
Dämmerung,
Tagträume verglühen,
Nebel begrüßen noch
das Schlußlicht der Sonne,
Vergänglichkeit
cr:Horst Decker
- 16. Rondell
Das zu dem Elfchen Gesagte passt in noch höherem Maße zum Rondell. Ein Rondell besteht aus acht Zeilen, von denen jeweils die erste, die vierte und die siebte völlig identisch sind. Das Gleiche trifft für die zweite und achte Zeile zu. Es bleiben somit bei acht Gedichtzeilen 5 Inhaltszeilen. Die restlichen 3 Zeilen sind Wiederholungen, die die große Gefahr beinhalten, das Gedicht zu entschleunigen und langweilig werden zu lassen. Ein solches Gedicht funktioniert daher nur bei sehr starken, emotionsgeladenen Texten. Gut geeignet ist die Form für Mahnungen, wobei die 3-fach wiederholende Verszeile die These wiedergibt, die doppelte Wiederholung die Antithese, bzw. das, wovor gewarnt wird.
In diesem Beispiel wurde die Grundform zugunsten einer Verstärkung der Schlussaussage variiert.
Da die ungereimte Lyrik ja neben Versmaß und Wortklang keine festen Formen vorschreibt, sind solche Eingriffe durchaus zulässig. Letztlich sind jedoch Variationen ab einem bestimmten Grad der Veränderung der Grundform nicht mehr als dieser Gedichtstyp erkennbar.
Fukushima
Ich habe Angst vor Atomkraft.
Sie behaupten sie sei gut
und bestrafen die Zweifler.
Ich habe Angst vor Atomkraft.
Bänker strahlen zufrieden und
sie behaupten sie sei gut.
Ich habe Angst vor Atomkraft,
ich glaube Fukushima
cr:Horst Decker
Streng nach der Regel hätte das Gedicht heißen müssen:
Ich habe Angst vor Atomkraft
und sie behaupten sie sei gut.
Sie bestrafen die Zweifler.
Ich habe Angst vor Atomkraft.
Bänker strahlen zufrieden und
ich glaube Fukushima
Ich habe Angst vor Atomkraft
und sie behaupten sie sei gut
Es gibt auch Regeln zum Rondell, nach der sich nicht die zweite und achte, sondern die erste und achte gleichen müssen, was auch eher dem Namen Rondell entspräche, denn es endet dann mit der Zeile, mit der es auch begonnen hatte, dreht sich also im Kreis.
- 17. Akrostichon
Fälschlich werde Akrostichons auch gelegentlich als Anagramme bezeichnet.
Ein Anagramm ist allerdings ein Wortspiel, bei dem verschiedene Worte aus den selben Buchstaben zusammengestellt werden. Z.B. der Satz 'Neger ergen gerne Regen'. Dieses Beispiel zeigt noch zwei weitere Dinge, nämlich bei dem Verb 'ergen', das eine dadaistische Erfindung ist, kann sich jeder ein eigenes Bild davon machen kann, was es heißen könnte. Dadurch wird der Inhalt des Satzes Produkt der Fantasie des Lesers. Auch so etwas kann Stilmittel eines Gedichtes sein.
In einem der größten deutschen Lyrikpreise mit vielen tausend Einlieferungen, dem Jokers Lyrikpreis 2012, belegte die Autorin Susanne Hasenstab den 1. Preis mit ihrem lautmalerischen Gedicht 'Der Würbel horbt im Tannenwald' . Es dürften kaum zwei Leser geben, die den Inhalt dieses Gedichtes annähernd identisch wahrnehmen.
In meinem Beispiel sind Neger und Regen auch Kehrworte, d.h. liest man Neger rückwärts, so wird daraus Regen.
Bei Worten, die vorwärts oder rückwärts gelesen werden können, kann man wiederum zwei Unterschiede feststellen. Manche dieser Worte sind vorwärts und rückwärts gelesen völlig identisch, wie z.B. das Wort 'Reittier'. Diese Worte nennt man Palindrome. Andere Worte wechseln mit der Leserichtung auch ihren Sinn, wie z.B. 'Gras' und 'Sarg'.
Bildet man nun aber ganze Verszeilen aus solchen Worten, so liegt es genau daran, dass Worte, die selbst vorwärts und rückwärts gelesen sinngleich sind, kaum zu Zeilen zusammengestellt werden können, die vorwärts und rückwärts gelesen identisch oder gar sinnvoll sind.(Beispielzeile: 'stets tut anna otto apo-opa nennen')
Umgekehrt ist es möglich mit Worten, die vorwärts und rückwärts gelesen einen unterschiedlichen Sinn ergeben, Zeilen zu schreiben, die vorwärts und rückwärts gelesen gleich sind. (Beispielzeile: 'ein esel lese nie')
Es gibt Dichter, die mit diesen beiden Varianten ganze Verse komponieren.
Doch hier ein Beispiel für ein Akrostichon. Bei einem Akrostichon bilden die Anfangsbuchstaben der Zeilen von oben nach unten gelesen ein Schlüsselwort des Gedichtinhalts.
F r ü h l i n g,
r auer Nächte Ende,
ü ber den Wolken
h eisere Rufe der Kraniche,
l autlose Sprache
i n uns,
n ie wird Liebe stärker
g efühlt.
cr:Horst Decker
Eine weitere Variante der reimlosen Gedichte, sind Gedichte, deren Vorgaben die zu verwendenden Worte, Silben oder Buchstabenzahl beschränken, z.B., um ein optisches Erscheinungsbild des gedruckten Gedichts zu erreichen. So lässt sich durch Zeilenlängen und Zeilenstellung erreichen, dass das Gedicht die Konturen des den Inhalt bestimmenden Objekts aufzeigt. So ist es leicht vorstellbar, ein Weihnachtsgedicht so zu komponieren und dann optisch aufzuschreiben, dass es die Form eines Weihnachtsbaums hat. Im Prinzip sind alle Formen denkbar.
Bekannte Formen sind hier das Dreieck, das Diabolo und die Raute, aber auch wesentlich kompliziertere Formen werden gedichtet. Sie müssen nicht aus ungereimtem Text bestehen, sie können, wie die folgenden Beispiele zeigen, auch gereimt sein.
- 18. Dreieck
Bei einem Dreieck erhöht sich mit jeder Zeile die Zahl der verwendeten Silben (man kann auch als Maß Buchstaben oder ganze Worte nehmen).
Ich |
bin frei |
frei für dich |
was immer sei |
entscheid' dich für mich |
es gibt nichts als uns zwei |
cr:Horst Decker
Schreibt man hierzu nun eine weitere Strophe, bei der man allerdings mit - in diesem Falle sechs - Silben beginnt und bei jeder Zeile die Silbenzahl um eins vermindert, so hat man ein auf der Spitze stehendes Dreieck. Diese beiden Strophen kann man nun zu einem Diabolo zusammensetzten.
- 19. Diabolo
Das Diabolo beginnt mit einer langen Verszeile und jede weitere Verszeile verkürzt sich. Ab einer bestimmten Zeilennummer kehrt sich das Schema genau um und die Zeilen verlängern sich im gleichen Maße, wie sie zuvor abgenommen haben.
Wie können wir leben, |
wenn der andre fehlt? |
Nie zu geben, |
was erwählt |
eben |
zählt. |
Ich |
bin frei |
frei für dich |
was immer sei |
entscheid' dich für mich |
es gibt nichts als uns zwei |
cr:Horst Decker
Setzt man nun die beiden Dreiecke des Diabolo mit den beiden langen Zeilen zusammen, so ergibt sich eine Raute.
- 20. Raute
Ich |
bin frei |
frei für dich |
was immer sei |
entscheid' dich für mich |
es gibt nichts als uns zwei. |
Wie können wir leben, |
wenn der andre fehlt? |
Nie zu geben, |
was erwählt |
eben |
zählt. |
cr:Horst Decker
Der Formenspielerei ist keine Grenze gesetzt.
Damit möchte ich meine kurze Darstellung der Gedichtformen beenden. Wenn Sie diese beherrschen, haben Sie alle Freiheit, alles völlig anders zu machen. Es gibt noch sicher ungezählt viele weitere Möglichkeiten zu entdecken.
Eines aber sollten Sie beherzigen. Ohne Versmaß funktioniert kein Gedicht.
® Horst Decker